Neustart – das Bundestagswahlprogramm der FDP


Die FDP sitzt momentan nicht im Bundestag und das ist eigentlich erstaunlich. Diese altehrwürdige Partei wurde bereits 1948 gegründet und saß von 1949 bis zur letzten Wahl 2013 durchgehend im Bundestag. Nicht nur das, sie war auch immer wieder als kleine Koalitionspartnerin an der Regierung beteiligt, so auch zuletzt von 2009 bis 2013. Bei der letzten Wahl scheiterte sie an der 5-Prozent-Hürde. Das kam nicht unbedingt überraschend, war aber doch ein ziemlicher Schock fürs System.
In der FDP Fraktion waren damals nur 24 der insgesamt 93 Abgeordneten weiblich. Das ergibt einen Frauenanteil von 25,8 %. Nur die CDU/CSU lag noch darunter. 

Die Brandenburgische Landesliste für diese Bundestagswahl besteht aus sieben Personen. Linda Teuteberg und Laura Schieritz sind die einzigen Frauen. Hier kann man sehen, wer in welchem Brandenburger Wahlkreis direkt kandidiert. Der Bundesvorsitzende Christian Lindner führt die FDP dieses Jahr als Spitzenkandidat in den Bundeswahlkampf.

Das Bundestagswahlprogramm trägt den Titel „Schauen wir nicht länger zu – Programm der Freien Demokraten zur Bundestagswahl 2017“. Schon im Inhaltsverzeichnis fällt auf, dass das ganze nur stellenweise gegendert ist. So wird zwar von Schülerinnen und Schülern gesprochen, ein paar Zeilen später aber ausschließlich von Lehrern. Diese Mischung zieht sich durch das gesamte Programm.

Die Positionen der FDP lassen sich einerseits ganz leicht auf den Punkt bringen. Der zentrale Fokus der Partei liegt immer noch bei Freiheit, Leistung, Freier Markt, Kleiner Staat und Digitalisierung.
Andererseits macht das Wahlprogramm es den Lesenden sehr schwer, ein Gefühl für die Themen der FDP zu bekommen, denn die Struktur ist teils verwirrend, teils wahllos.

Bildung als neues Prestige-Projekt

Die FDP hat gleich im ersten Kapitel die Bildung als neues Kernthema für sich entdeckt und möchte ein „Mondfahrtprojekt weltbeste Bildung“ (S. 4). Der Name bezieht sich auf die kollektiven Anstrengungen der USA in den 1960er Jahren, einen Menschen auf den Mond zu bringen.

Alle Bereiche der Politik und Bevölkerung sollen sich gemeinsam auf bessere Bildung konzentrieren und ihre Anstrengungen und Ressourcen in dieses Politikfeld leiten. Die Ausgaben für Bildung sollen soweit erhöht werden, dass wir in diesem Punkt zu den führenden fünf Ländern der OECD gehören. Im Moment liegt Deutschland hier unter dem Durchschnitt. Um beste Bildung zu erreichen, sollen Standards und Abschlüsse in ganz Deutschland vereinheitlicht werden. „Dafür muss unser Bildungsföderalismus grundlegend reformiert werden.“ (S. 4) Das hört sich tatsächlich ungefähr genauso ambitioniert an, wie die Apollo 11 Mission.

Eine zentrale Neuerung soll die Einführung von Bildungsgutscheinen von der Kita bis zur Uni sein, denn „so entsteht ein transparenter Qualitätswettbewerb um die besten Bildungsleistungen“. (S. 5) Hierbei erhalten die Eltern einen Gutschein für die Bildung ihres Kindes, den sie in einer Einrichtung ihrer Wahl, auch in freier Trägerschaft, einlösen können. In den USA gibt es dieses System in manchen Staaten bereits. Das Konzept wird sehr kritisch gesehen, da es öffentlichen und private Schulen in einen direkten Wettbewerb stellt. Studien haben außerdem keine nennenswerte Verbesserung der Lernleistung bei Schülerinnen und Schülern gefunden.

Die FDP findet gerade diesen Wettbewerb vorteilhaft, denn so würde sich Qualität durchsetzen. Wettbewerb soll es aber nicht nur zwischen den Bildungseinrichtungen geben, sondern auch in ihnen. In einem Nebensatz versteckt sich die Idee, „bessere Lehrer besser zu bezahlen“ (S. 7). Ein Hoch auf die regulierende Kraft des Marktes. An dieser Stelle bleibt die Frage offen, ob die FDP „weltbeste Bildung für jeden“ (S. 3) als ein Grundrecht betrachtet, oder als ein Produkt, das nach den Regeln der Marktwirtschaft gehandelt werden kann.

Medien- und Digitalkompetenz möchte die FDP mehr in den Fokus der Bildung rücken. Das soll schon in der Kindheit beginnen und sich ein Leben lang fortsetzen. (S. 7) Kita-Personal soll besser ausgebildet und bezahlt werden. Wie das genau passieren soll, wird nicht erwähnt. (S. 8)
Zur Inklusion folgt ein halbes Bekenntnis. Integration in Regelklassen ist gut, Förderschulen soll es aber weiter geben. (S. 9)

Volljährige in Ausbildung oder Studium sollen eine elternunabhängige Ausbildungsförderung erhalten können, es soll mehr Stipendien und staatliche Unterstützung für Bildungssparen geben. So sollen Eltern den „Bildungsweg ihrer Kinder von klein auf absichern“ (S. 10). Studiengebühren findet die FDP gut, aber nicht während des Studiums. Sie sollen nach dem Abschluss und erst ab einer gewissen Einkommensgrenze gezahlt werden, „sodass Generationen von ehemaligen Studierenden über einen umgekehrten Generationenvertrag zur Verbesserung von Studienbedingungen beitragen“. (S. 13)

Das duale Ausbildungssystem soll aufgewertet und gestärkt werden. „Zukünftig müssen alle Ausbildungsberufe ausschließlich mit digitalen Medien unterrichtet werden und das Fach Informatik wesentlicher Bestandteil der berufsschulischen Ausbildung sein.“ (S. 11) Die Oberstufenzentren als solche, soll es nicht mehr geben. Der schulische Teil einer Ausbildung kann online unterrichtet werden, ohne dass Auszubildende ihren Arbeitsort verlassen müssen. (S. 12)

Leistung in allen Lebenslagen

Kapitel zwei heißt „Vorankommen durch eigene Leistung“ (S. 14) und behandelt in relativ schneller Abfolge folgende Themen: Gründungskultur & Wagniskapital, Share-Economy, staatliche Subventionen, Digitaler Binnenmarkt für Europa, Netzneutralität, Mobilität, Infrastruktur, Barrierefreiheit, Kultur, Aufarbeitung der deutschen Diktaturen, Landwirtschaft, Artenvielfalt, Umweltschutz, Altersvorsorge, Sozialstaat, Einwanderungsrecht und Gleichstellungspolitik.

Wem jetzt der Kopf schwirrt, der ist nicht allein.

Die FDP bleibt nach wie vor ihrem Ruf nach einem kleineren Staat treu. So soll zum Beispiel auf Bundesebene eine Subventionsbremse eingeführt werden. Dabei sollen zunächst alle staatlichen Subventionen überprüft und schließlich stufenweise abgeschmolzen werden. Das staatliche Eingreifen in wirtschaftliche Prozesse (wie z.B. die Förderung für Elektro-Autos) nützt, laut FDP, meist nur wenigen und schadet dem Gemeinwohl. (S. 17f)

Auf das Thema Digitalisierung geht das Programm recht ausführlich ein. „Die Digitalisierung ist die umwälzendste Veränderung unseres Lebens seit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.“ (S. 19) Die FDP fordert einen Digitalen Binnenmarkt für Europa, so dass es keine Rolle mehr spielt, von wo man auf bestimmte Internetdienste zugreift. Das wird jede freuen, die schon mal voller Vorfreude auf einen Youtube-Link geklickt hat, nur um zu sehen, dass das Video in Deutschland nicht verfügbar ist. Es folgt auch ein eindeutiges Bekenntnis zur Netzneutralität. Das finde ich gut.

Beim Thema Mobilität spricht sich die FDP gegen die von der großen Koalition beschlossenen PKW-Maut aus und für eine Öffnung des Wettbewerbs auf dem Schienennetz. „Denn nur echter Wettbewerb auf dem Schienennetz führt dazu, dass es effizient genutzt wird und die Kundinnen und Kunden die besten Angebote erhalten.“ (S. 21) Der freie Wettbewerb führt vielleicht zu mehr Effizienz, aber Kundinnen und Kunden die in eher dünn besiedelten Gebieten wohnen, z.B. in Brandenburg, würden dann eher gar kein Angebot mehr erhalten.

Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen und eine Absenkung von Höchstgeschwindigkeiten lehnt die FDP ab. (S. 22) Tja, Fahren ist eben Freiheit, da ändert auch der Klimawandel nichts dran.

Die FDP fordert mehr Barrierefreiheit. Dabei geht es nicht nur um Einschränkungen in der Mobilität. „Für uns Freie Demokraten ist Barrierefreiheit eine Haltung.“ (S. 22) Das soll heißen, dass auch im Kopf Barrierefreiheit herrschen soll. So wendet sich die Partei zum Beispiel „gegen jede Art von Diskriminierung, insbesondere gegenüber Älteren. Altersgrenzen müssen der Vergangenheit angehören. Wir wollen eine vorurteilsfreie Gesellschaft mit Chancen für jeden.“ (S. 22)

Beim Thema Artenvielfalt zeigt gleich der erste Satz, dass ein Koalitionsvertrag mit den Grünen schwierig werden könnte: „Wir Freie Demokraten wollen die Zukunft der Artenvielfalt sichern. Dabei setzen wir bevorzugt auf freiwillige Maßnahmen und den eigentumsfreundlichen Vertragsnaturschutz.“ (S. 25) Das ist doch ziemlich zahnlos. So ähnlich klingt das auch beim Thema Umweltschutz. „Vorankommen durch eigene Leistung bedeutet verantwortungsbewusstes Handeln für sich und seine natürliche Umgebung. Der weitverbreiteten Symbol- und Verbotspolitik setzen wir Fortschrittsoptimismus durch Freiheit und Verantwortung entgegen.“ (S. 26)

Ich persönlich möchte bei diesem Thema ungern darauf vertrauen, dass führende Persönlichkeiten in der Industrie auf die Umwelt Rücksicht nehmen und dabei auch mal den Profit hintenanstellen.

Beim Thema Rente hat die FDP eine ganze Reihe konkreter Vorschläge. Ein festgelegtes Renteneintrittsalter passt nach Meinung der Partei nicht mehr zu modernen Lebensentwürfen. „Daher soll künftig die einfache Regel gelten: Ab 60 entscheidet jeder selbst, wann er in Rente geht.“ (S. 27) Je später man in Rente geht, desto höher fällt diese aus. Der FDP wäre es am liebsten, wenn alle eine Rente hätten, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, statt nur auf die staatliche Rente zu vertrauen. Es sollen also betriebliche und private Altersvorsorge verstärkt zum Zuge kommen. Damit man dabei nicht den Überblick verliert, schlägt die FDP ein freiwilliges Vorsorgekonto vor, bei dem man online nachgucken kann, wieviel man später kriegt. „Wir meinen, dass ein solches Vorsorgekonto zu einer besseren und umfassenderen Altersvorsorge führt.“ (S. 28f)

Die Idee gefällt mir gut. Wenn ich einfach mal online nachschauen könnte, wie mein jetziger Stand ist, würde ich vielleicht aufhören, dieses Thema vor mir herzuschieben und mich mal ernsthaft mit meiner Altersvorsorge befassen.

Unter der Überschrift „Aktivierender Sozialstaat“ (S. 30) wird sich mit den Menschen befasst, die mal nicht die so oft beschworene Leistung bringen können und auf Hilfe angewiesen sind. Hier wird viel über Weiterbildung und lebenslanges Lernen geschrieben. Hinter vielen optimistischen Worten schimmert hier doch die harte Realität der Leistungsgesellschaft hervor, die jederzeit absoluten Einsatz verlangt. Ein Ausstieg aus dieser ist für die FDP immer nur ein vorübergehender Zustand, der schnellstmöglich beendet werden muss. „Eine Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I ist hingegen kontraproduktiv. Denn nur wer den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt geschafft hat, kann auch aufsteigen und vorankommen.“ (S. 31)

Hier werden en passant übrigens Alleinerziehende erwähnt: „Darüber hinaus müssen Kitas auch deshalb endlich flexibler und verlässlicher werden, damit gerade Alleinerziehende nicht mehr in so großer Zahl dauerhaft auf die Unterstützung de Solidargemeinschaft angewiesen sind.“ (S. 31)

Überhaupt sollten die ganzen Sozialleistungen wenn schon nicht gekürzt, so doch wenigstens drastisch vereinfacht werden. Die FDP schlägt vor, all die verschiedenen steuerfinanzierten Sozialleistungen zur einem Bürgergeld zusammen zu fassen. (S. 32) Selbstverdientes Einkommen soll darauf nur prozentual und geringer als jetzt angerechnet werden.

Beim Thema Einwanderungsrecht hat die FDP grundsätzlich eine relativ offene Einstellung: „In einer offenen Gesellschaft ist es egal, woher jemand kommt. Es ist wichtig, wohin er mit uns zusammen möchte. Als alternde Gesellschaft sind wir darauf angewiesen, dass qualifiziert und fleißige Menschen aus anderen Teilen der Welt zu uns kommen.“ (S. 34) Die Regeln für diesen Zuzug müssen allerdings erst noch klar definiert werden. Zuerst erfolgt jedoch eine klare Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten, Kriegsflüchtlingen und dauerhaften Einwanderern. „Das Grundrecht auf Asyl für individuell politisch Verfolgte ist für uns unantastbar.“ (S. 34) Menschen, die vor Kriegen fliehen, sollen einen eigenen Status erhalten, der auf die Dauer des Krieges begrenzt ist und nach Identitätsfeststellung unkompliziert verliehen wird.

Hier stellt sich mir die Frage, was genau denn Krieg ist. Als George W. Bush im zweiten Irak-Krieg unter dem „Mission Accomplished“ Banner stand, war es trotzdem nicht gerade sicher in der Region. Das ist es bis heute nicht.

„Dauerhafte Einwanderer wollen wir uns wie jedes andere Einwanderungsland selbst aussuchen.“ (S. 34) Hier soll es ein Punktesystem geben, wo Menschen nach Bildungsgrad, Alter, Sprachkenntnissen und beruflicher Qualifikation bewertet werden. Geflüchtete sollen die Möglichkeit haben, in diesen Rechtskreis zu wechseln, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen.

Bei der Frage nach Integration macht die FDP allen Seiten des deutschen Politik-Spektrums Vorwürfe. „Konservative wollten keine verbindliche Integration, weil sie nicht anerkannt haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Linke verweigerten Integration, weil sie in dem naiven Glauben verharrten, jeder Einwanderer sei per se eine Bereicherung und Integration gelinge von allein.“ (S. 35) Die FDP möchte eine verbindliche Integration, die auf Verfassungspatriotismus abzielt. Die doppelte Staatsangehörigkeit soll grundsätzlich möglich sein, damit Menschen eingebürgert werden können, ohne dafür ihre Wurzeln aufgeben zu müssen.

Bei der Integration von Geflüchteten möchte die FDP die Barrieren zum Arbeitsmarkt für diese Gruppe beseitigen. Ich hatte mich beim Lesen schon darüber gefreut, dass die unsägliche Arbeitsverbote eine Absage kriegen, aber dann folgte dieser Satz: „Außerdem wollen wir für Flüchtlinge eine Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn, wie für Langzeitarbeitslose, einführen.“ (S. 36) Ach, schade. Knapp daneben.

Beim Thema Chancengleichheit von Frau und Mann beschränkt sich die FDP auf Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik. Das einseitige Modell der Steuerklasse V (also das Ehegattensplitting mit einer Geringverdienerin oder einem Geringverdiener in der Gleichung) soll weg und Frauen sollen stärker ermuntert werden, „klassische Männerbranchen zu erobern“, denn diese werden schließlich besser bezahlt, als diejenigen, die „viele Frauen traditionell ergreifen“. Damit erledigt sich dann auch die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern. (S. 36) Die FPD möchte mehr Frauen in Führungsverantwortung, aber bitte ohne Quote. (S. 37)

Ich bestimme selbst

Die Tour de Force der Themenvielfalt setzt sich im dritten Kapitel mit dem Titel „Selbstbestimmt in allen Lebenslagen“ (S. 37) fort.

Den Anfang macht das wichtige Thema Datenschutz, was von einigen anderen deutschen Parteien immer noch eher stiefmütterlich behandelt wird. Die FDP bezieht hier klar Stellung: „Wir Freie Demokraten kämpfen gegen jede anlasslose Erhebung und Speicherung von personenbezogenen Daten – sei es aufgrund von Vorratsdatenspeicherung, Fluggastdatenerhebung oder automatischer Kennzeichenerfassung mit dauerhafter Datenspeicherung.“ (S. 38) Lückenlose Überwachung soll es laut FDP nicht geben und sowieso führen mehr gespeicherte Daten nicht zu mehr Sicherheit.

Bargeld soll erhalten bleiben und es werden mehrere Gründe dafür aufgeführt. Bei diesem hier musste ich schmunzeln: „[Es] erfüllt eine wertvolle Aufgabe bei der Erziehung unserer Kinder.“ (S. 39)

Der Absatz über Sicherheitsbehörden zeigt, wie sehr die FDP von der Grundeinstellung des aktuellen Innenministers Thomas de Maizière abweicht. Hier wird das Gegenteil von „Law & Order“ vorgeschlagen. Damit Sicherheitsbehörden effektiv arbeiten können, sollten sie von Nebensächlichkeiten entlastet werden: „Man könnte den Bluttest bei unfallfreien Fahrten unter Alkoholeinfluss abschaffen, Cannabis kontrolliert freigeben“ und Aufgaben wie z.B. Ruhestörungen auf andere Behörden verlagern. Bei Straftaten ohne Geschädigte ist zu klären, „ob eine Strafverfolgung überhaupt notwendig ist“. (S. 40)

Im Folgenden geht es um den Einsatz von V-Leuten (es soll bundesweit einheitliche Regelungen dazu geben) und geheimdienstliche Arbeit. Die FDP hat sehr konkrete Vorschläge für ein parlamentarisches Kontrollgremium für die Sicherheitsbehörden. (S. 41) An dieser Stelle wären ein paar Worte zum NSU vielleicht angebracht gewesen.

Bei der Videoüberwachung weicht die FDP einmal von ihrer grundsätzlichen Linie ab, möglichst wenig vom Staat erledigen zu lassen. „Die Tendenz, mehr Videoüberwachung durch private Stellen zuzulassen, um die so gewonnenen Aufzeichnungen für staatliche Zwecke dienstbar machen zu können, sieht die FDP kritisch. Die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger ist eine originäre staatliche Aufgabe.“ (S. 42)

Freiheit ist ja auch, frei zu sein von Diskriminierung. „In unserer Republik haben gruppenbezogene Menschenanfeindungen wie Antisemitismus und Islamfeindlichkeit keinen Platz.“ (S. 42) Apropos Islam, zum großen Aufregerthema des letzten Sommers hat die FDP folgendes zu sagen: Alle sollen ihre Religion oder ihren Atheismus oder Agnostizismus frei leben können. „Deshalb lehnen wir auch beispielsweise ein generelles Verbot der freiwilligen Verschleierung ab […].“ Und dann folgt das hier: „Gleichzeitig müssen eventuelle private Zwänge, die Frauen zu einem bestimmten Verhalten drängen, konsequenter verfolgt und der Schutz vor häuslicher Gewalt verbessert werden.“ (S. 43)

Immerhin wird das Thema häusliche Gewalt mal erwähnt. Es gefällt mir aber ganz und gar nicht, dass es subtil einer bestimmten Religionsgemeinschaft zugeordnet wird, anstatt der Tatsache ins Auge zu blicken, dass dieses Problem in allen Gesellschaftskreisen besteht. Hmpf.

Ohne Pause geht das Programm zur Gesundheitsversorgung über. Hier wird unter anderem auf Hebammen eingegangen. Die Gebärende soll entscheiden dürfen, wo sie entbindet, ob Klinik oder Geburtshaus und das System „darf nicht den Idealismus der Menschen weiter ausnutzen, wie dies bei Hebammen und anderen medizinischen Berufen der Fall ist. Beleg- und freie Hebammen sind eine tragende Säule der Gesundheitsversorgung der gebärenden Mutter, dies muss adäquat unterstützt werden.“ (S. 47) Details folgen dazu nicht.

Die Pflegeberufe sollen mehr gesellschaftliche Wertschätzung erhalten. Die große Belastung des Jobs soll sich auch in der Vergütung widerspiegeln. Die FDP fordert eine integrative Ausbildung. Zumindest der letzte Punkt wurde gerade erst vom Bundestag beschlossen.
Reproduktionsmedizin soll allen Menschen unabhängig vom Familienstand zugänglich sein, und solche Konzepte wie Eizellenspende und kommerzielle Leihmutterschaft sollen auch in Deutschland unter Auflagen erlaubt sein. (S. 51)

Ein eigener Absatz widmet sich der Ablehnung von Homo- und Transphobie. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld soll mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden. Die FDP fordert außerdem die Abschaffung des Blutspende-Verbots für Männer, die mit Männern schlafen und eine Erneuerung des Transsexuellengesetzes, so dass Personenstands- und Namensänderungen ohne diskriminierende Hürden möglich sind. „Wir fordern zudem eine Anpassung des Antidiskriminierungskatalogs in Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz an die der europäischen Grundrechtscharta und damit die Aufnahme der Merkmale der sexuellen Ausrichtung und des Alters.“ (S. 51f)

Im Absatz zur Presse- und Meinungsfreiheit geht es um die hochaktuellen Themen „Fake News“ und Hass-Postings. Die FDP lehnt hier, ganz im Sinne der totalen Freiheit, jede Einschränkung durch staatliche Seite ab. So „sind auch erfundene oder verfälschte Nachrichten […] von der Meinungs- und Pressefreiheit abgedeckt.“ (S. 52) Oha.

Außenpolitik

Im vierten Kapitel entspannt sich das Inhaltsverzeichnis wieder und bleibt brav bei allen Themen rund um die Außenpolitik.

Mit der Wahl Donald Trumps sieht die FDP die Rolle der USA als Weltmacht möglicherweise geschwächt. Daraus erschließt sich für die Partei die Notwendigkeit die Europäische Union zu stärken. (S. 54) Gegenüber Russland soll es eine klare Haltung geben. „Wir Freie Demokraten fordern die russische Regierung auf, die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim und den Krieg in der Ostukraine unverzüglich zu beenden.“ Die zunehmende Unterdrückung der Opposition und Zivilgesellschaft in Russland wird mit Sorge beobachtet. Die FDP möchte darauf mit Sanktionsverschärfungen, bzw. -erleichterungen bei Einlenken Russlands, reagieren. (S. 54f)

Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollen beendet werden. Die Bedingung eines „funktionierenden Rechtsstaat[s] erfüllt die Türkei derzeit eindeutig nicht.“ (S. 56) Das sind mal klare Worte.

Die Brexit-Entscheidung des britischen Volkes wird zwar bedauert, aber respektiert und für einen pragmatischen Umgang damit geworben. Fasst schon süffisant werden Schottland und Nordirland regelrecht dazu eingeladen sich doch selbstständig zurück in die EU zu begeben. Die Tür stände jedenfalls offen, wenn es nach der FDP geht. (S. 56)

Laut der FDP wurden die Fluchtbewegungen der letzten Jahre mit „Chaos und staatlichem Organisationsversagen“ beantwortet. (S. 59) „Rechtsstaatliche Mittel und klare Regeln können Ordnung in Einwanderung und Asylpolitik bringen.“

OK, mit dem Satz habe ich gleich mehrere Probleme. Erstens werden mal eben Asyl und Einwanderung in einen Topf geworfen, obwohl das zwei sehr verschiedene Dinge sind. Und zweitens wünsche ich mir von allen Beteiligten, dass aufgehört wird, so zu tun, als gebe es in beiden Bereichen keine Regeln. Wenn es etwas in diesem Land gibt, dann sind es Regeln. Und vielleicht sollten alle, denen solche oder ähnliche Worte über die Lippen gehen, mal probeweise einen Einwanderungs- oder Asylprozess in Deutschland durchlaufen. Da gibt es genug Regeln für alle. Versprochen.

Immerhin, festgelegte Obergrenzen für Asyl lehnt die FDP ab, mit dem Hinweis darauf, dass dies dem Grundgesetz widersprechen würde. Genau. „Um Menschen die lebensgefährliche Flucht zu ersparen, möchten wir es ermöglichen, Asylanträge auch bereits im Ausland zu stellen. […] Außerdem wollen wir mehr Anreize für reguläre Migration aus betroffenen Regionen schaffen. Deutschland und die EU müssen die Anzahl auf Arbeitsmarkt- und Ausbildungsvisa erhöhen.“ Es soll in den Staaten über Wege regulärer Migration aufgeklärt und dafür geworben werden. (S. 59)

Die Dublin-III-Verordnung, nach der Geflüchtete in dem Land aufgenommen werden müssen, wo sie zuerst in der EU ankommen, soll durch einen fairen Verteilungsschlüssel ersetzt werden. Länder, die die Aufnahme verweigern sollen in einen Fonds einzahlen müssen. (S. 60)

Die FDP sieht in der EU nach wie vor ein wertvolles Projekt, möchte aber grundlegende Reformen und ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ (S. 61). Der Einigungsprozess soll zu einer „dezentral und bundesstaatlich verfassten Europäischen Union“ führen. „Dieser Weg ist das erklärte Gegenmodell zum Rückfall Europas in nationalstaatliche Kleinstaaterei einerseits oder die Schaffung eines zentralisierten europäischen Superstaats andererseits.“ (S. 61)

FRONTEX soll größeren Handlungsspielraum erhalten, um die EU-Außengrenzen zu sichern, jedoch weiterhin Aufgaben der Hochseenotrettung im Mittelmeer wahrnehmen, um weitere Tote durch kenternde Schlepperbote zu verhindern, denn „innere Sicherheit in Europa darf nie auf Kosten der Menschenrechte erzielt werden“ (S. 61).

Die FDP möchte auch den Aufbau einer Europäischen Armee unter gemeinsamem Oberbefehl und parlamentarischer Kontrolle. „Nur gemeinsam kann die EU auch in Zukunft Sicherheit für ihre Bürgerinnen und Bürger garantieren, insbesondere angesichts eines Präsidenten Trump, der das Verhalten der USA zunehmend unvorhersehbar macht.“ (S. 62). Spitz, und doch diplomatisch formuliert. Chapeau!

Menschenrechte gelten weltweit und die FDP lehnt jegliche Versuche ab, „ihre Anwendbarkeit zu relativieren“ (S. 63) Das sollten sich Theresa May und einige deutsche Parteien vielleicht mal durch den Kopf gehen lassen. Bei Verletzungen der Menschenrechte von Menschen aus der LGBTQI- Community möchte die FDP die Entwicklungszusammenarbeit kürzen.

Im Kampf gegen Terrorismus setzt die FDP auf die Instrumente der Sozialen Arbeit, um frühzeitig einer möglichen Radikalisierung entgegen zu treten. „Die Ausbildung von Multiplikatoren und Fachkräften zur Erkennung und Verhinderung der Radikalisierung muss verstärkt werden.“ (S. 65)

Geld, Geld, Geld

Im fünften Kapitel „Politik die rechnen kann“ (S. 66) geht es ums Finanzielle. Wie zu erwarten, möchte die FDP die Bevölkerung möglichst wenig zur Kasse bitten. Insgesamt soll es eine Belastungsgrenze für direkte Steuern und Sozialabgaben im Grundgesetz geben, die 50 Prozent nicht überschreitet. Der Solidaritätszuschlag soll wie versprochen bis Ende 2019 abgeschafft werden. (S. 68)

Sowohl in der EU als auch bei den Kommunen in Deutschland gilt für die FDP: „Jeder haftet für die eigenen Schulden“ (S. 72). Es soll eine Insolvenzordnung für Gebietskörperschaften geben. In der Eurozone soll es ein geregeltes Verfahren für Staatsinsolvenzen geben und eine Möglichkeit, aus der Euro-Zone auszutreten ohne die EU-Mitgliedschaft zu verlieren. (S. 70) Das läuft dann unter dem Begriff „Eigenverantwortung“. Wer nicht klar kommt, muss eben sehen wo er bleibt.

Das Kapitel schließt seltsamerweise mit Auslassungen zu Energiewende und Klimaschutz. Na gut, das hat natürlich auch was mit Geld zu tun.

Es wird nach einem Neustart in der Energiewende verlangt, der das ganze zu einem gesamteuropäischen Projekt macht, „in dessen Zentrum die Ziele Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltschutz stehen.“ (S. 77) Man beachte die Reihenfolge. Auch hier wird voll und ganz auf dem Markt gesetzt. „Anstelle weit in eine ungewisse Zukunft geplanter Ausbauziele für erneuerbare Energieträger soll das Auswahlverfahren des Marktes die Leitplanken der Investitionen in Netz und Kraftwerkskapazitäten setzen.“ (S. 77f) Subventionen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sollen beendet werden.

„Der Schutz des Klimas ist zu wichtig, um ihn bürokratisch und planwirtschaftlich anzugehen.“ (S. 79) Das Pariser Klimaabkommen wird immerhin befürwortet, denn nationale Alleingänge bringen schließlich nicht den gewünschten Erfolg. Die Pläne der FDP geben mir aber Rätsel auf. „Aus unserer Sicht sind alle gesellschaftlich akzeptierten Technologien und Energieträger gleichermaßen geeignet, die sich marktwirtschaftlich behaupten können und eine sichere Energieversorgung gewährleisten.“ (S. 79)

Diese drei Kriterien – gesellschaftliche Akzeptanz, marktwirtschaftliche Behauptung, Gewährleistung der Versorgung – stehen erst einmal in keinem Zusammenhang mit dem Ziel des Klimaschutzes. Die FDP möchte auf europäischer Ebene keine technischen Auflagen für Treibhausgasminderung und keine Subventionen für Vermeidungstechnologien. Was möchte die FDP denn dann überhaupt für den Klimaschutz tun? In ihren Augen reicht der Emissionshandel als zentrales Steuerungsinstrument völlig aus.

Was am Ende übrig bleibt

Im letzten Kapitel mit dem Titel „Ein unkomplizierter Staat“ (S. 81) werden noch ein paar Dinge erwähnt, die nirgendwo sonst reingepasst haben. Bürokratie soll abgebaut werden und bei politischen Entscheidungen soll nicht nur auf Risiken sondern auch auf Chancen geschaut werden. (S. 81f) Es soll mehr freies WLAN im öffentlichen Raum geben, dafür muss die Störerhaftung weg. (S. 83f)

Die Mietpreisbremse möchte die FDP gerne abschaffen, denn „sie ist tatsächlich eine Wohnraumbremse, weil sie Investitionen in mehr Wohnraum verhindert.“ (S. 85) Privatpersonen würden so davon abgeschreckt, in Wohnraum zu investieren und sie stellen etwa zwei Drittel der Mietwohnungen bereit und „wollen gewöhnlich auch keine horrenden Renditen erwirtschaften“. Wenn diese Vermietenden sich aus dem Markt zurück ziehen würden, verknappte sich das Wohnungsangebot weiter.

Liebe FDP, das kommt mir vor wie eine Milchmädchenrechnung. Als Potsdamerin kann ich aus eigener Erfahrung sprechen, wenn ich sage, dass sich das Wohnungsangebot für breite Bevölkerungssegmente weiter verknappt, obwohl so viele Privatpersonen immer neue, todschicke Townhouses mit E-Concierge zur Vermietung anbieten.

So. Das war das Programm der FDP. Alle die es bis hierher geschafft haben, kriegen ein Bienchen.

Wie gesagt, besonders leicht zu lesen ist das Programm nicht. Immerhin, das Inhaltsverzeichnis ist sehr ausführlich. Man kann bei Interesse also direkt zu den Punkten springen, die einen interessieren.

Ich möchte alle Lesenden dazu einladen, ganz für sich selbst die FDP zu bewerten. Wir machen das hier wie so ähnlich wie beim Eiskunstlaufen, es gibt eine A-Note für Inhalt und eine B-Note für Stil. Die mögliche Höchstpunktzahl ist 9, die 0 spricht für sich selbst. Wie die Wahl selbst, ist auch diese Bewertung geheim. Wer sie uns trotzdem mitteilen möchte kann das gerne bei Facebook oder Twitter tun.

Bis dann denn,

Laura

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FRAUEN STIMMEN GEWINNEN ist ein Projekt des Autonomen Frauenzentrums Potsdam in Kooperation mit dem Frauenpolitischen Rat des Landes Brandenburg. Die Texte sind verfasst von Laura Kapp. Jennifer Hoffmann betreibt die Social Media Accounts.
Das Projekt wird finanziell gefördert durch die Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung (Vielen Dank!). Anmerkungen, Ideen, Feedback, Kritik und Komplimente sind herzlich willkommen: per e-mail unter frauenstimmen@frauenzentrum-potsdam.de, auf Twitter @frauenstimmen oder auf Facebook.