IN VIA: Auf dem Weg – mit Barbara

Die goldene Kuppel der Neuen Synagoge gleißt im Sonnenlicht. Rund um den Hackeschen Markt herrscht vormittägliche Geschäftigkeit. Doch Licht und Schatten liegen, wie immer im Leben, nahe beieinander. Unweit der Touristenmeile befindet sich ein Berliner Mietshaus, in dem Menschen Hilfe suchen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

„IN VIA – 2. Hinterhof, 3. Etage“ ist am Eingang zu lesen. Und nur Eingeweihte wissen, dass es sich dabei um eine Beratungsstelle für Frauen, die vom Menschenhandel betroffen sind, handelt. Barbara Eritt, Sozialpädagogin und studierte Politologin mit polnischen Wurzeln, leitet diese seit nunmehr zwanzig Jahren. Und unzählige Frauen haben seit 1997 bei ihr und ihren Kolleginnen Hilfe und Unterstützung gefunden.

Seit mehr als 100 Jahren hilft IN VIA jungen Frauen

An diesem Vormittag eilt Eritt immer wieder zwischen ihrem winzigem Büro und einem nur wenig größeren Beratungsraum hin und her, telefoniert mal auf Russisch, mal auf Polnisch. Und es ist ihr anzumerken, dass es wichtige Gespräche sind, die sie führt. Heute ist auch Anna* mit ihrer Tochter da und sucht, wie so oft in den vergangenen fünf Jahren, Eritts Hilfe.

Anna kommt ursprünglich aus Rumänien und hat mit knapp Dreißig einiges erlebt. Sie wurde als fünftes von sieben Kindern geboren und schon im Vorschulalter zur Adoption freigegeben. Sie kam in eine Pflegefamilie, die es für richtig hielt, dass das Mädchen nach zwei Jahren Schule auf dem Feld arbeitete. Das tat sie auch fast 15 Jahre lang, bis ihr Cousinen eine bessere Zukunft in Deutschland versprachen. Anna ging mit und sollte, genau wie ihre Verwandten, als Prostituierte arbeiten. Nach drei Tagen nahm sie all ihren Mut zusammen und flüchtete – ohne ein Wort Deutsch zu können – zur Polizei.

Bahnhofsmissionen sind der Grundstein von IN VIA

Seitdem ist Anna „auf dem Weg“, was IN VIA übersetzt bedeutet. Auf keinem leichten, denn nach ihrem Prozess, in dem sie vor ihren Peinigern alles wiederholen musste, was ihr angetan wurde, ist es nicht leicht für die Analphabetin, hierzulande Fuß zu fassen. Ohne Schulbildung hat sie kaum Chancen auf einen Job. Und: sie hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, da sie sich seit ihrer Aussage vor Gericht vor dieser verstecken muss.

Doch bei IN VIA, das schon seit über 100 Jahren jungen Frauen, die damals vom Land in die Großstadt kamen, hilft, ihren/einen Weg zu finden, hat Barbara Eritt ein offenes Ohr für alle ihre Probleme. Sie half ihr, einen Platz in einer Schutzwohnung zu finden und Deutsch zu lernen. Und die Sozialpädagogin bemerkt auch, dass Anna, anders als andere junge Mütter in ähnlicher Situation, sehr liebevoll und zugewandt mit ihrem Kind umgeht.

Minderjährige erleiden schwerste Traumatisierungen, wenn sie zur Prostitution gezwungen werden

Auch das bestätigt die 61-Jährige, immer wieder weiterzumachen. Und sie sagt, dass es in ihrer Beratungspraxis alles gäbe – Schicksale à la „Pretty Woman“ , über Frauen, die erfolgreich ein Studium abschließen bis hin zu schwerster Traumatisierung, die vor allem Minderjährigen drohe, wenn diese zur Prostitution gezwungen würden.

Seit 2010 hat IN VIA, das deutschlandweit arbeitet und trotz katholischer Wurzeln für jede hilfesuchende Klientin offensteht, auch eine Zweigstelle in Königs Wusterhausen in Brandenburg. Im gesamten Land Brandenburg gibt es zwischen 1.500 und 3.000 Prostituierte, die auf der Straße, in sogenannten Terminwohnungen oder in Bordellen arbeiten. Die Zahlen sind nicht präzise, sagt Eritt, weil es im Land Brandenburg kein Rotlichtkommissariat gibt.

Menschenhandel und Zwangsprostitution müssen strukturell bekämpft werden

Gefragt danach, warum sie sich gerade diesem Thema seit langer Zeit so intensiv widmet, sagt Barbara Eritt, dass sie als Politologin auch dafür kämpft, dass diese Tatsachen ins öffentliche Bewusstsein gelangen und dass sich strukturell (endlich) etwas ändern muss. Denn die Geschichten, die sie sich von Mädchen und Frauen aus Osteuropa, aus Afrika, aus China, Kuba oder Vietnam anhören muss, zeigen vor allem, dass (zunehmende) Armut und Rückständigkeit der Auslöser für Migrationsbewegungen sind, die für viel zu viele Frauen unfreiwillig entweder in extreme Arbeitsausbeutung oder in die Prostitution führen.

Text: Astrid Priebs-Tröger
Fotos: Anne Heinlein

*Name von der Redaktion geändert

IN VIA – Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit für das Erzbistum Berlin e. V.

Die Beratungsstellen für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind, in Berlin und im Land Brandenburg beraten und unterstützen Frauen, die unfreiwillig der Prostitution nachgehen und/oder von anderen Zwangslagen wie Handel in die Ehe oder Handel in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse betroffen sind.

Sie arbeiten eng mit IN VIA Streetwork – HIV-/Aids-Prävention und der IN VIA-Beratung im Land Brandenburg und im grenzüberschreitenden Raum zu Polen zusammen. Die Beratung, Begleitung und Unterstützung betroffener Frauen findet vor Ort in ihrer Muttersprache statt. IN VIA berät kostenlos und anonym in den Sprachen Deutsch, Englisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Französisch und Ungarisch.

IN VIA macht mit seiner Kampagne „Mittendrin. Ohne Rechte.“ auf die Situation von durch Menschenhandel betroffene Frauen aufmerksam. https://www.invia-deutschland.de/presse/kampagne-2015/kampagne-2015