Situation geflüchteter Frauen in Brandenburg

Posted by on Nov 10, 2015 in Allgemein

Wir veröffentlichen hier Auszüge aus der Diskussion während der Mitgliederversammlung des Frauenpolitischen Rates am 7. November 2015.

Begonnen wurde mit der Vorstellung des Policy Paper „Effektiver Schutz vor geschlechts- spezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften“ durch Heike Rabe vom Deutschen Institut für Menschenrechte.

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Heike Rabe sprach vom „Brennpunkt Erstaufnahmeeinrichtung“, in denen die Frauen und Männer bis zu sechs Monate verbleiben müssen – unter Einhaltung der Residenzpflicht und des Sachleistungsprinzips. Geschlechtsspezifische Gewalt wird von den Bewohnerinnen nicht thematisiert (v. a. Partnergewalt geht unter) aber von Sozialarbeiterinnen vor Ort als stark belastend angesprochen.

Bisher wird keine lückenlose Kette des Gewaltschutzes in Gemeinschaftsunterkünften erreicht. Es gibt keine Verfahrensrichtlinien in den Ausländerbehörden; es herrschen Unsicherheiten u. a. in Bezug auf die polizeiliche Wegweisung der Täter. Und: die Ent- scheidungen der Ausländerbehörden dauern oft Monate. Andere Faktoren kommen erschwerend hinzu, z. B. eine Kostendifferenz zwischen dem Asylbewerberleistungsgesetz oder dem Sachleistungsprinzip und den tatsächlich anfallenden Kosten im Frauenhaus.

Nötig ist: Notplätze in Frauenhäusern (wie z. B. in Berlin) vorzuhalten, von Gewalt betroffene Frauen über ihre Rechte zu informieren und zu beraten sowie das Personal von Gemein- schaftsunterkünften (Sozialarbeiter/-innen, Wachschutzmitarbeiter/-innen und Ehrenamtliche) im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt zu schulen.

Das Positionspapier finden Sie hier: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de

Die Diskussionsrunde „Situation geflüchteter Frauen in Brandenburg“ eröffnete die Landesgleichstellungsbeauftragte Monika von der Lippe mit einem Überblick über die Situation im Land Brandenburg:

Frau von der Lippe hat keine aktuellen Flüchtlingszahlen für Brandenburg; bis Jahresende werden insgesamt 50.000 Menschen erwartet. Mehr Männer als Frauen kommen, doch der Frauenanteil nimmt in letzter Zeit zu. Ihr liegen keine konkreten Informationen zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt vor: „Man hört, dass fast jede Frau auf der Flucht Gewalt- erfahrungen gemacht hat.“ In Brandenburger Gemeinschaftsunterkünften ist geschlechtsspe- zifische Gewalt ebenfalls ein Thema. Frau von der Lippe verweist auf die Bilanz der asylpolitischen Tour von Sozialministerin Diana Golze und Sozialstaatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt: https://www.masgf.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.421749.de

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Der Landesregierung und dem Sozialministerium bescheinigt sie große Sensibilität beim Thema Flüchtlingsfrauen. „Raus aus der Abhängigkeit“ sei für alle Asylsuchenden das Gebot der Stunde und dafür werden qualifizierte Strukturen gebraucht.

Neben der Förderung von ehrenamtlichem Engagement geht es vorrangig um Sprachkurse für jede Frau und jeden Mann und darum, ihren Eintritt in den Arbeitsmarkt voranzutreiben. Das Landesaufnahmegesetz wird novelliert; ab 1. April 2016 soll es die Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge in Brandenburg geben. Im Bereich der Gewaltprävention wird ein mobiles Beratungsteam gebildet, das auch das Thema „Gewaltschutz für Frauen“ bearbeitet.

Monika von der Lippe wünscht sich die Schaffung einer landesweiten Koordinierungsstelle „Gewalt gegen Frauen“; die vorhandenen Beratungsstrukturen sollten zudem für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge geöffnet werden. Im Integrationsbeirat des Ministeriums wird in Kürze eine Unterarbeitsgruppe „Flüchtlingsfrauen“ ihre Arbeit aufnehmen. Beim Thema Integrationsangebote geht es darum, die ganz spezifischen Bedarfe von Frauen im Auge zu behalten. Es sei außerdem wichtig, die Standards, die im Bereich Gewaltschutz gesetzt werden, auch vor Ort zu überprüfen.

Dorothea Lindenberg, Akteurin der flüchtlingspolitischen Bewegung aus feministischer Sicht erzählte, wie Frauen geschlechtsspezifische Gewalt in Gemeinschaftsunterkünften erleben:

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Dorothea Lindenberg spricht von den ganz konkreten Bedingungen in Gemeinschafts- unterkünften und der Schwierigkeit, bei alltäglicher geschlechtsspezifischer Gewalt, Anzeige zu erstatten. Besonders alleinstehende Frauen erfahren Belästigungen: anzügliche Bemerkungen und scheinbar ‚zufällige‘ Berührungen an Brust und Po. „Und den Allermeisten ist durchaus bewusst, dass das nicht in Ordnung ist; sie nehmen es nicht als ‚Selbstverständlichkeit‘ hin – es empört sie, sie finden es nicht richtig.“

Aber: es gehört zu ihrem ‚Alltag‘ und sie entwickeln Strategien, um dem zu entgehen: keine nächtlichen Toilettengänge, Duschen nur zu zweit. Frau Lindenberg spricht auch auf die allgemeine Situation in Gemeinschaftsunterkünften an: Männer sitzen den ganzen Tag tatenlos herum. Und: „Es gibt für Flüchtlingsfrauen keine Klarheit, was man gegen geschlechtsspezi- fische Gewalt unternehmen kann; ‚Women in Exile‘ hat versucht, Flyer zu entwickeln, aber solange Rechtsunsicherheit herrscht, kann man da nicht reinschreiben, dass die Polizei zu rufen ist.“

Heike Rabe entgegnet, dass die allgemeinen Standards (Wegweisung) angewendet und durchgesetzt werden müssen, auch in der gegenwärtigen Krisensituation.

Dorothea Lindenberg verweist auf die Kampagne von Women in Exile ‚Keine Lager für Frauen!‘ und die Forderung, Frauen vorrangig in Einzelwohnungen unterzubringen.

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Aus dem Publikum kommt der Hinweis auf das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ in fünfzehn Sprachen https://www.hilfetelefon.de/aktuelles.html, denn Sprachbarrieren vor Ort sind groß.

Doch: Nach der Erstberatung am Telefon ist es sehr schwierig, spezifische Angebote vor Ort zu finden. Es gibt allgemein viel zu wenig Flüchtlingsberatung in Brandenburg und zu wenig Fraueninfrastruktur, wird aus dem Publikum eingeworfen.

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Sylvie M. (ebenfalls im Publikum) lebt seit vierzehn Jahren in Deutschland – und ihr Aufenthaltsstatus ist immer noch nicht geklärt. Sie fragt nach Deutschkursen für Menschen wie sie, die nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften, sondern in eigenen Wohnungen leben und von den Angeboten für Asylsuchende nicht mehr erfahren und profitieren.

Protokoll: Astrid Priebs-Tröger
Fotos: Simone Ahrend, sah-photo

Die Resolution des DGB-Bundesfrauenausschuss vom 29. September 2015 Frauen und Flucht – Resolution der DGB Frauen „Frauenspezifische Fluchtursachen bewusst machen, weibliche Flüchtlinge unterstützen!“ finden Sie hier